L. Polexe: Netzwerke und Freundschaft. Sozialdemokraten in Rumänien

Cover
Titel
Netzwerke und Freundschaft. Sozialdemokraten in Rumänien, Russland und der Schweiz an der Schwelle zum 20. Jahrhundert


Autor(en)
Polexe, Laura
Reihe
: Freunde – Gönner – Getreue. Studien zur Semantik und Praxis von Freundschaft und Patronage 3
Erschienen
Göttingen 2011: V&R unipress
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sabina Bossert

Wie funktionieren Freundschaft und Netzwerk in der sozialdemokratischen Welt zur Zeit der Wende zum 20. Jahrhundert? Dieser Frage widmet sich die Dissertation von Laura Polexe. Das Forschungsgebiet ist dabei nicht nur zeitlich klar abgegrenzt – als Wende zum 20. Jahrhundert definiert Polexe den Zeitraum zwischen der Gründung der «Gruppe zur Befreiung der Arbeit» 1883 und der Russischen Revolution sowie der letzten Konferenz der Zweiten Internationalen in Stockholm 1917 –, sondern auch geografisch (Rumänien, Russland und Schweiz). Diese Länderauswahl liegt wahrscheinlich in erster Linie in der Biographie der Verfasserin begründet, sie schreibt aber auch von der Bedeutung der Schweiz als Asylland mit grossen Kolonien russischer und anderer ausländischer Studenten sowie von der geografischen Lage Rumäniens, die dazu führte, dass dieses Land als Bindeglied zwischen den im Ausland lebenden Sozialdemokraten und deren Organisationen im Russischen Reich fungierte. Innerhalb dieses zeitlichen und geografischen Raumes zeichnet sie die Entstehung und den Zerfall von sozialdemokratischen Netzwerken, die Bedeutung von Freundschaft und persönlicher Beziehungen nach, also den Gesamtverlauf der Entwicklung zwischenmenschlicher Verhältnisse.

Die Arbeit ist in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil wird der aktuelle Forschungsstand beschrieben, werden ausführliche Überlegungen zu Theorie und Methode angestellt sowie grundlegende theoretische Begrifflichkeiten geklärt, wie z.B. Internationalismus und Sozialismus / Sozialdemokratie, Netzwerk, Freundschaft. Der zweite Teil, Internationale Sozialdemokratie und Netzwerke, geht auf die Vorgeschichte und Ausgangslage der sozialdemokratischen Bewegung ein. Im dritten Teil werden Netzwerke und Diskurse innerhalb der Zweiten Internationalen erläutert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Begegnungsorten. Im vierten und letzten Teil schliesslich geht es um einzelne Freundschaftsbeziehungen, um Bekanntschaften und Korrespondenzen, wobei ein separates Unterkapitel auf die Frauen in der Sozialdemokratie eingeht. Die Hauptprotagonisten in Polexes Untersuchung sind Cristian Racovski, Lev Trockij, Constantin Dobrogeanu-Gherea, Pavel Aksel’rod, Robert Grimm, Rosa Grimm, Hermann Greulich, Karl Kautsky, Lydia Dan und Georgij Plechanov, die nicht nur aufgrund ihrer Stellung innerhalb der Sozialdemokratie ausgewählt worden sind, sondern auch aus praktischen Gründen: Ihre Nachlässe sind gut zugänglich.

Die Quellenlage, mit der Polexe gearbeitet hat, ist sehr reich: In erster Linie arbeitet sie mit Selbstzeugnissen. Briefwechsel sollen dabei Antworten geben auf die Fragen nach der Rolle und der Vernetzung einzelner Akteure, sie zeigen den Weg des Informationsflusses auf und liefern detaillierte Daten über Verhältnisse der Personen untereinander. Zur Ergänzung werden Lebensläufe, Zeitungsartikel, Lektürelisten und Broschüren herangezogen.

Anhand dieser beachtlich umfangreichen Quellenarbeit kam Polexe zu dem Ergebnis, dass reale und virtuelle Begegnungsorte als Ausdruck der proletarischen Freundschaft zu sehen sind. Bekanntschaften, die innerhalb der sozialdemokratischen Netzwerke geschlossen wurden, konnten sich zu tieferen, persönlichen Freundschaften entwickeln, wobei sie feststellen musste, dass eine Abgrenzung zwischen nur freundschaftlichen und Liebesbeziehungen schwierig zu eruieren ist. Zwar sind viele Korrespondenzen durch ein starkes Mass an Intimität geprägt, sexuelle Beziehungen seien jedoch schwierig nachzuweisen.

Das Spezifische einer proletarischen Freundschaft sieht Polexe darin, dass durch die Freundschaft als politisches Organisationskonzept innerhalb der sozialdemokratischen Gemeinschaft eine Art gesellschaftliches Distinktionsmerkmal wirksam wurde, durch das zwischen dazu Gehörenden und Fremden unterschieden wurde. Durch Schlagworte wie «Freund» oder «Bruder» wurde eine fiktive Verwandtschaft hergestellt; die Mitglieder, die zum Teil wegen ihrer politischen Überzeugung Verfolgungen ausgesetzt waren, wurden dadurch zu Mitgliedern einer engen Gemeinschaft oder einer grossen Familie. Durch die eingehende Beschäftigung mit Biographien und Korrespondenzen war es möglich, zwischen der «nur» proletarischen Freundschaft und einer privaten, intimeren Beziehung zu differenzieren. Interessant ist dabei, dass sich die Freundschaft zwischen Sozialdemokraten an bürgerliche Formen anlehnt, sich aber trotzdem durch eine spezifische Semantik und eigene Rituale von diesen unterscheiden.

Durch den kombinierten Ansatz von Biographie, Lebenswelt- und Netzwerktheorie ist es Polexe gelungen, einen neuen Zugang zur Geschichte der Zweiten Internationale zu gewinnen. Dadurch dass sie die Handlungen und Entscheidungen der Akteure aus der Perspektive persönlicher Bindungen betrachtet, werden diese lebensnaher und nachvollziehbarer. Zudem konnten durch die verschiedenen geografischen Räume (Russland, Rumänien, Schweiz) transnationale Beziehungen nachgezeichnet werden, die nicht nur politische Bündnisse oder Zweckfreundschaften waren, sondern teilweise in tieferen Freundschaften resultierten. Polexe hat durch die Untersuchung von Selbstzeugnissen neue Aufschlüsse über die Selbstwahrnehmung der behandelten Protagonisten geben können. Für zukünftige Forschungen wäre es wünschenswert, jüdische Akteure innerhalb der Sozialdemokratie, die in dieser Arbeit mehrheitlich ausgeklammert wurden, verstärkt einzubeziehen.

Zitierweise:
Sabina Bossert: Rezension zu: Laura Polexe: Netzwerke und Freundschaft. Sozialdemokraten in Rumänien, Russland und der Schweiz an der Schwelle zum 20. Jahrhundert. Göttingen, V&R unipress, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 358-359

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 358-359

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